Reinheit – religiöse, soziale und politische Aspekte

Reinheit – religiöse, soziale und politische Aspekte

Organisatoren
Institut für Historische Anthropologie e.V., Freiburg
Ort
Mülheim an der Ruhr
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.09.2008 - 13.09.2008
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Von
Florian Kühnel, Graduiertenkolleg des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vom 11. bis 13. September 2008 veranstaltete das „Institut für Historische Anthropologie e.V.“ (Freiburg) eine interdisziplinär angelegte Tagung zum Thema „Reinheit – religiöse, soziale und politische Aspekte“ unter der Leitung von CHRISTOPH MARX (Essen-Duisburg) und PETER BURSCHEL (Rostock).

Die Tagung hatte sich zur Aufgabe gemacht, „Reinheit“ als historisch-anthropologisches Phänomen zu untersuchen: „Reinheit“, so die Auffassung der Organisatoren, sei mehr als eine Codierung der gesellschaftlichen Umwelt, sie sei keine bloße Metapher oder eine Art von Mentalität. Reinheit materialisiere sich vielmehr in den Körpern von Menschen, in den Formen ihres Zusammenlebens und sie strukturiere das Verhältnis von Menschen zueinander. Wie Christoph Marx in seiner Einleitung hervorhob, sei „Reinheit“ ein „eminent religiöser Begriff“, der sich in nahezu allen Religionen gleichzeitig sowohl im menschlichen Körper wie auch als spiritueller Zustand verwirkliche. Nur eine umfassende Betrachtung des Zusammenspiels von spiritueller und körperlicher Reinheit und den damit verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen könne somit der Komplexität des Phänomens gerecht werden. Vorstellungen von Reinheit – so eine weitere Ausgangsthese – dienten immer dazu, Selbst- und Weltdeutungen zu vereinheitlichen bzw. zu homogenisieren: Durch die (häufig klaren) Zuschreibungen von rein und unrein könne gesellschaftliche Komplexität effektiv reduziert werden.

Vergleicht man Reinheitsvorstellungen in verschiedenen Kulturen, so zeigt sich, dass „Unreinheit“ häufig verbunden ist mit der Erde, bzw. dem Stoffwechsel des Menschen – „Reinheit“ dagegen mit dem „Überirdischen“, mit dem Göttlichen. In aller Regel gelten die Funktionen und die Beschränkungen des Körpers als unrein: Nahrungsaufnahme, Verdauung, Sexualität, Tod usw. In vielen Religionen kann spirituelle Reinheit hergestellt werden, indem sich die betreffenden Menschen über die „natürlichen“ Körperfunktionen hinwegsetzen. Beispiele wie das Fasten oder die (teilweise lebenslange) Enthaltsamkeit, aber auch die Heiligkeit der Ehe sind hier zu nennen.

Wichtig scheint an dieser Stelle zu betonen, dass es „die Reinheitsvorstellung“ einer Gesellschaft nicht geben kann, da es immer nur verschiedene Perspektiven auf zum Teil sehr unterschiedliche Reinheitsvorstellungen einer Gruppe von Menschen gibt. Reinheitsdiskurse können sich ergänzen und überlagern, sie können sich aber auch widersprechen oder gar völlig ohne jegliche Berührungspunkte in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen existieren.

Im Rahmen der Tagung wurden verschiedene Arten von Reinheitsvorstellungen bzw. verschiedene Wege „Reinheit“ zu erreichen deutlich:

Zum ersten wäre hier die schon angesprochene Vorstellungen von Reinheit als Streben nach dem Göttlichen zu nennen. „Reinheit“ in diesem Sinne, so ebenfalls Christoph Marx, sei ein „Differenzbegriff“, der Unterschiede zwischen Menschen und ihrer jeweiligen Nähe zu Gott bezeichne. Dieser Art von Reinheit entsprach das von WALTHER SALLABERGER (München) gewählte Beispiel, der babylonische und assyrische Texte des ersten vorchristlichen Jahrtausends auf die Frage hin untersuchte, inwiefern in ihnen Vorstellungen von „Reinheit“ hervortreten. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass „Reinheit“ als Kategorie im Alltag, das heißt bei alltäglichen Formen von „Sauberkeit“, allenfalls eine „untergeordnete Rolle“ gespielt habe. Gebote, in denen „Reinheit“ eine zentrale Bedeutung spielte, hätten in Mesopotamien fast ausschließlich mit der Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen zu tun gehabt – so zum Beispiel in Vorschriften der Nahrungsaufnahme und Körperpflege. „Reinheit“ sei somit ein Mittel der Grenzziehung gewesen, das den alltäglichen Bereich vom kultisch-religiösen schied.

Dass die Nähe zum Göttlichen auch zu extremen Formen von Unreinheit und damit zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führen kann, zeigte JOHANNES HARNISCHFEGER (Frankfurt a.M.) am Beispiel der prekären Stellung der Osu, einer bestimmten Gruppe von Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria. Wurde ein Osu geweiht und der Gottheit übereignet, lud sich alles Unheil und Verderben auf ihn, er war fortan unberührbar, das heißt beispielsweise mit Berührungstabus belegt, und seine Unreinheit vererbte sich auf seine Nachkommen. Gerade die große Nähe zum Göttlichen führte also in diesem Fall zur völligen (und unauslöschbaren) Unreinheit der betreffenden Person.

Als weitere Form von Reinheitsvorstellungen erwies sich das Streben nach Perfektion, nach Vollkommenheit und gesellschaftlicher Ordnung, das heißt in aller Regel das Streben nach einem Zustand idealer Normalität. Dies zeigte KLAUS VOLLMER (München) in seinem Vortrag sehr anschaulich, indem er die soziale Randgruppe der Burakumin im heutigen Japan und deren geschichtliche Wurzeln beschrieb. Historisch gehe die Unreinheit dieser Minderheit auf randständige Gruppen des japanischen Mittelalters zurück, wie die Hinin („Nicht-Menschen“) oder die Eta („viel Schmutz“), die ihren Status durch die Ausübung unehrlicher Berufe, besonders im Bereich der Kadaververwertung, erlangt hätten. Vorstellungen von Reinheit stellten hier jedoch nicht ein Streben vom Irdischen zum Göttlichen, sondern vielmehr ein Streben nach gesellschaftlicher Homogenität und Perfektion im Sinne idealer Normalität dar. Demnach sei alles Unnormale unrein. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sei weiterhin, so Vollmer, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem die hygienische Reinigung der entsprechenden Wohnviertel als Mittel propagiert werde, um die Diskriminierung der Burakumin aufzuheben und ihre Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen.

Ein weiteres Ziel, das im Zusammenhang mit Reinheit gesehen werden muss, ist das Streben nach Wahrheit bzw. Erkenntnis. Reinheit ist nach dieser Vorstellung ein Zeichen von Wahrhaftigkeit – wer rein ist, hat die Zusammenhänge von Welt und Kosmos erkannt.

Als ein elementarer Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Reinheitsvorstellungen zeigte sich im Laufe der Tagung der Gegensatz von temporärer und endgültiger (Un-)Reinheit.
Ein Beispiel dafür, dass sich Phasen der Reinheit und der Unreinheit relativ kurzfristig abwechseln können, lieferte BEATRIX HAUSER (Berlin/Halle) mit ihrem Vortrag über Menstruationsvorstellungen im indischen Süd-Orissa. Wie in vielen Kulturen, so gelten auch hier menstruierende Frauen als unrein, das heißt sie sind mit verschiedenen Berührungstabus gegenüber Personen und Gegenständen belegt und von religiösen Handlungen ausgeschlossen. Besondere Bedeutung erlange die menstruelle Unreinheit im kulturellen Leben dadurch, dass die Menstruationsphase der Umwelt durch die Codierung von Kleidung und Verhalten angezeigt werde, sie also „öffentlich“ sei, so dass nie Zweifel über den aktuellen Reinheits-Status entstünden.

Einem Beispiel für die Änderbarkeit des Reinheits-Status in der abendländischen Antike widmete sich DOROTHEE ELM (Freiburg i.Br.), die dem Zusammenhang von Reinheit und Freiheit in der römischen Kaiserzeit in ihrem Vortrag anhand der Metamorphosen des Apuleius nachging. Der in diesem Roman beschriebene beschwerliche Weg des in einen Esel verwandelten Lucius hin zu einem Priester des Isis-Kultes sei als Allegorie für das Verhältnis von Sklaverei und Freiheit zu verstehen. Lucius – ein seinen Affekten ausgelieferter unreiner Geist in einem unreinen (Tier-)Körper – entspreche dem Bild des unfreien und beherrschten Sklaven. Erst die allmählich Nähe zum Göttlichen durch die ethisch-moralische Befreiung von seinen Zwängen und die parallel vollzogenen reinigenden Initiationsrituale ermöglichten seine Erlösung. Diese Geschichte habe ihre Entsprechung in der Wirklichkeit darin gefunden, dass Sklaven bei ihrer Freilassung ganz ähnlichen Reinigungsritualen unterzogen wurden und auch ihnen mit Erlangung der Freiheit eine höhere spirituelle Reinheit zugestanden wurde.

Gegenüber solchen Formen temporärer (Un-)Reinheit können Reinheit und Unreinheit auch angeboren und damit in aller Regel unauslöschbar sein – häufig ist der Status erblich und führt damit zu dauerhaften sozialen Abgrenzungen. Die Beispiele der Osu in Südostnigeria oder der Burakumin in Japan wären auch an dieser Stelle zu nennen. Das Argument, mit dem der Gegensatz rein – unrein bei vererbbarer (Un-)Reinheit häufig begründet wird, ist das der „Reinheit des Blutes“. Hier werden Vermischungsverbote bzw. Regeln des Konnubiums zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung eingesetzt. Diese „Biologisierung von Statusunterschieden“ erreichte im Rassenwahn des 20. Jahrhunderts wohl ihren (negativen) Höhepunkt. Die Geschichte der Rassenlehre stellte PAUL MÜNCH (Bisingen) in diesem Zusammenhang dar. Zwar hätten sich auch in der Vormoderne bestimmte Gruppen durch Abstammung oder „Reinheit des Blutes“ definiert und nach außen abgegrenzt (wie beispielsweise der frühneuzeitliche Adel), und auch in der (Tier-)Zuchtlehre seien vereinzelt Überlegungen zum Menschen angestellt worden. Dennoch habe die Biologisierung des Konzepts im 19. Jahrhundert, mit der Ausbildung von Rassenlehre, Evolutionstheorie (Darwin) und Vererbungslehre (Mendel) eine neue Qualität entstehen lassen. Die Folgen der sich um 1900 explosionsartig ausbreitenden Rassentheorie gipfelten in den eugenischen und rassenhygienischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts, die ihr Ziel in der Reinheit der Rassen hatten. Begriffe wie „ethnische Säuberung“, „Rassenhygiene“ oder „Rassenreinheit“ machen den Zusammenhang von Reinheitsvorstellungen und Rassismus auch sprachlich sehr deutlich.

Russische Vorstellungen von biologischer Reinheit zeichnete MICHAEL HAGEMEISTER (Basel) nach, indem er Theoretikern des frühen 20. Jahrhunderts und deren Visionen zur Vervollkommnung der Menschheit nachging (darunter Leo Trotzki, Nikolai Fjodorow oder Konstantin Ziolkowski). Diese hätten angestrebt, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik in die Schöpfung des Menschen einzugreifen und ihn durch biologische Optimierung von allen Zwängen der Natur zu befreien. Am Ende der Selbstvervollkommnung habe als Ziel die völlige Auflösung der Körperlichkeit des Menschen, ein Aufgehen in Licht und elektrischen Strömen, also die Überwindung jeglicher Materie, gestanden. Hagemeister betonte, diese Schriften seien insofern keine reinen Utopien gewesen, als sie als theoretische Grundlage der realpolitischen Umsetzung im Stalinismus gedient hätten.

Reinheit in diesem unauslöschbaren Sinne erhält eine „ethnozentrische Dimension“ (Ch. Marx): Indem Reinheit als (Selbst-)Zuschreibung ganzer Kollektive zur Abgrenzung gegenüber anderen Großeinheiten genutzt wird, ist mit der unauslöschbaren Unreinheit der Anderen die eigene unauslöschbare Reinheit verbunden. Die alttestamentarischen Grundlagen des Topos des „Antikanaanismus“, der in diesem Zusammenhang immer wieder von Kollektiven instrumentalisiert wird, zeichnete THOMAS STAUBLI (Fribourg i.Ue.) nach. So werde in der Tora die Inbesitznahme Kanaans durch die Israeliten einerseits genealogisch begründet, indem die dort lebenden Nachfahren Hams von dessen Vater Noah zur Knechtschaft verflucht worden seien; andererseits habe Gott selbst (bzw. durch die Israeliten als Werkzeug auf Erden) die Kanaaniter niedergeworfen. In der Folge hätten verschiedene Gruppen das Reinheitskonzept des „Antikanaanismus“ instrumentalisiert, um die Unterwerfung der Einwohner eines Gebietes zu legitimieren, so zum Beispiel bei der Eroberung Amerikas.

An dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass Reinheit häufig mit sozialer Macht verknüpft ist. Mit der Abgrenzung von rein und unrein ist meist auch eine gesellschaftliche Grenzziehung verbunden – das Reine zeigt sich erst in Abgrenzung vom Unreinen. Die Deutungsmacht über Reinheit und Unreinheit in einer Gesellschaft ist daher auch immer Ausdruck konkreter realexistierender Machtverhältnisse. Reinheitsvorstellungen dienen damit oft der Begründung und Aufrechterhaltung von gesellschaftlicher Gliederung, so beispielsweise der Unterscheidung nach sozialem Status oder Geschlecht. Wie Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit im bolschewistischen Denken zur Durchsetzung der angestrebten politischen Ordnung genutzt wurden, beschrieb STEFAN PLAGGENBORG (Bochum) in seinem Vortrag. Bereits in den Schriften Lenins aus den frühen 1920er-Jahren sei die spätere „Säuberung“ (čistka), also die Beseitigung von Andersdenkenden und Feinden des Systems, vorgezeichnet gewesen (zum Beispiel in Reinheitsvorstellungen und biologischen Metaphern). Plaggenborg betonte, dass es sich dabei zwar um „Ermöglichungsdiskurse“ gehandelt habe, und man keineswegs von einem einfachen Kausalitätszusammenhang zwischen dieser diskursiven Ebene und den späteren realpolitischen Massenmorden sprechen könne. Allerdings habe die in der Theorie vorhandene Verschwommenheit der Feindgruppen ihre Anwendbarkeit auf besondere Art begünstigt: Gegner waren immer vorhanden und wurden je nach tagespolitischem Geschäft verfolgt und eliminiert.

Betrachtet man den Zusammenhang von Reinheitsvorstellungen und sozialer Macht genauer, so fällt auf, dass die „machtlosen“ gesellschaftlichen Gruppen der Grenzziehung keineswegs immer hilflos ausgeliefert sein müssen. Vielmehr wird auch hier deutlich, dass Reinheitsvorstellungen gezielt genutzt werden können, um eigene Interessen durchzusetzen. ASTRID WINDUS (Hamburg) zeigte dies anhand der Selbstdarstellung der Inkaherrscher nach der Eroberung Perus durch die Spanier. Auf der einen Seite hätten vorspanische Formen der visuellen Genealogiedarstellung auch weiterhin bestanden, andererseits seien diese durch neue (zum Teil spanische) Symbole ergänzt worden. Insgesamt habe das Ziel darin bestanden, sich in einer reinen Abstammungslinie auf den ersten Inkaherrscher und Gründer des Reiches zurückzuführen und damit den Herrschaftsanspruch als lokale Elite zu legitimieren. Nach der Neuordnung der Machtverhältnisse durch die Spanier habe die Notwendigkeit bestanden, den Platz in der neuentstandenen Hierarchie als „Herrscher auf niedriger Stufe“ sowohl nach oben, gegenüber Spanien, als auch nach unten, gegenüber der eigenen Bevölkerung, zu sichern.

Demgegenüber ging ANNE CONRAD (Saarbrücken) in ihrem Vortrag in geschlechtergeschichtlicher Perspektive der Frage nach, ob Unreinheit im Christentum vor allem mit Weiblichkeit assoziiert wurde (und wird). Sie stellte dabei fest, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede zwar gegeben habe, diese aber in Theologie und Religionspraxis eine relativ geringe Rolle gespielt hätten, da Gebote gewöhnlich beide Geschlechter gleichermaßen betrafen. Der Reinheitsdiskurs im Christentum sei vielmehr als stark ambivalent anzusehen, von einer eindeutigen Benachteiligung von Frauen in diesem Zusammenhang könne keineswegs die Rede sein. Conrad betonte stattdessen, dass es Frauen immer möglich gewesen wäre, sich durch die gezielte Nutzung von Reinheitskonzepten ganz besondere Handlungsmöglichkeiten zu erschließen. Dieser Sichtweise entsprach das von WALTRAUD PULZ (München) gezeichnete Bild, die das Phänomen nahrungsabstinenter Frauen im europäischen 16. Jahrhundert untersuchte. Da dem Zeitverständnis nach bei den Frauen dadurch sowohl die Verdauung als auch die Menstruation aussetzte – beides typische Quellen von „Unreinheit“ –, seien sie als „rein“ bzw. heilig wahrgenommen worden und konnten somit im religiösen Bereich agieren. Die „Reinheit“ konkretisierte sich also in den Körpern der Frauen und war damit ein für alle sichtbares und unverkennbares Zeichen ihrer spirituellen Herausgehobenheit. Durch die Rekurrierung auf dieses (zeitgenössisch eigentlich überholte) mittelalterliche mystisch-charismatische Heiligkeitsmodell, hätten sich die Frauen so neue Handlungsmöglichkeiten im direkten Kontakt zu Gott geschaffen, die in der Religionspraxis des 16. Jahrhunderts sonst allein Männern vorbehalten waren.

Diese Fälle zeigen noch einmal sehr deutlich, wie eng Reinheitsdiskurse, gesellschaftspolitische Ordnung und die herrschenden Machtverhältnisse miteinander verquickt sind. Ein Beispiel, an dem dieser Tatbestand besonders augenscheinlich zu Tage tritt, referierte ANGELIKA MESSNER (Kiel). So habe sich parallel zu den sozialen Umbruchsprozessen im China des 17. Jahrhunderts auch das dort vorhandene Bild vom menschlichen Körper und damit die Reinheitswahrnehmung gewandelt. Mit dem Bevölkerungswachstum und dem Einfall der „Barbaren“ in den Norden des Reiches habe eine geistige und wirtschaftliche Blüte im Süden des Reiches eingesetzt. Gleichzeitig habe sich in den medizinischen Theorien des frühen 17. Jahrhunderts der Mittelpunkt des Menschen vom Herzen weg zwischen die Nieren verlagert. Damit sei schließlich auch das Streben nach Reinheit als Voraussetzung für die menschliche Vervollkommnung subtilen Veränderungen unterworfen gewesen. Die Begriffe zhai (wörtl. „Fasten, vegetarisch essen, Entsagen“) und xi xin („Waschen bzw. Läutern des Herzens“), die auf die spirituelle Reinigung verweisen, seien in diesem Zusammenhang zentral.

Abschließend bleibt zum Verhältnis von Reinheit und Macht noch zu sagen, dass Reinheitsdiskurse äußerst wirkmächtige und beständige Mittel zur Stabilisierung von Machtverhältnissen sind. Auch nach grundlegenden Umwandlungen der bestehenden Ordnung können Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit noch lange weiterbestehen. Die fortdauernde Furcht vor der Unreinheit randständiger Gruppen, wie den Osu oder den Burakumin, die trotz aller christlich-westlicher Einflüsse allen (auch rechtlichen) Gleichstellungsversuchen entgegenwirkt, zeigt dies besonders deutlich.

Über den Zusammenhang von körperlicher und spiritueller Reinheit wurde im Vorigen bereits Einiges gesagt. Die Frage, ob Reinheit immer sowohl eine spirituelle wie eine körperliche Dimension hat, konnte im Laufe der Tagung allerdings nicht eindeutig geklärt werden. Immerhin zeigte sich in mehreren Vorträgen, dass in verschiedenen Religionen unterschiedliche Gewichtungen von ritueller Reinheit und „innerer“ bzw. spiritueller Reinheit existieren. Dies zeigte auch ARNOLD ANGENENDT (Münster), der in seinem Vortrag die These vertrat, durch das Christentum sei das allen Religionen gemeinsame Prinzip der Reinheit durch rituelle Handlungen von einem Prinzip der ethischen Reinheit abgelöst worden. Statt der Heiligkeit von Orten, Gegenständen und Personen sei Reinheit nun eine Sache des Herzens, der persönlichen Entscheidungen und der Vernunft geworden. Erst um 800 n.Chr., so Angenendt, wären die christlich-religiösen Handlungen kultisch aufgeladen worden, was schließlich in der Kreuzzugsmotivik in massiven blutreligiösen Reinheitsvorstellungen gegipfelt habe: Das „Heilige Land“ konnte nur durch das Vergießen des Blutes der Sündigen befreit und gereinigt werden. Erst mit der Ausbildung der modernen Medizin seien solche Reinheits- bzw. Pollutio-Vorstellungen endgültig überwunden worden. Inwieweit solche schematischen Abfolgetheorien die Realität abbilden, sei dahingestellt. Allerdings wurde vielfach ergänzend die Vermutung geäußert, dass es auch mit der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit wiederum zu einer stärkeren Ethisierung der Reinheitsvorstellungen gekommen sei.

ANDREAS BÄHR (Berlin) gab in seinem Vortrag zu bedenken, dass die Unterscheidung von körperlicher und spiritueller Reinheit eine „moderne Dichotomisierung“ sei, die erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstanden wäre. Er stützte diese These, indem er Vorstellungen von Reinheit in der Frühen Neuzeit anhand von Furcht vor deren Gegenteil (also vor Unreinheit) untersuchte. Die Furcht vor der Unreinheit des konfessionellen Gegners und vor der von ihm ausgehenden Gefahr habe im Verständnis der Frühen Neuzeit zu eigener Verunreinigung und Erkrankung geführt. Eine die Sünden der Menschen bestrafende göttliche Gewalt zu fürchten, anstatt blindes Gottvertrauen zu üben, führte demnach selbst zum Erleiden dieser Gewalt. „Rein“ in diesem Sinne, habe nur sein können, wer sich seine Unreinheit eingestand und damit auf Gottes Gnade vertraute. Die Furcht vor Unreinheit sei folglich die Voraussetzung dafür gewesen, sie zu überwinden. Somit seien „Reinheit“ und „Unreinheit“ im frühneuzeitlichen Verständnis keine gegensätzlichen Begriffe gewesen, vielmehr habe sich Reinheit in der Unreinheit konstituiert.

Die Auseinandersetzung vieler Referenten/innen mit dem Werk Purity and Danger von Mary Douglas 1 zeigte, dass es sich dabei – bei aller geäußerten Kritik – um den wichtigsten Referenztext zum Thema handelt, der für eine systematische Ordnung nach wie vor unerlässlich ist.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Tagung durchweg als erfolgreich bezeichnet werden kann. Alle Referenten/innen bemühten sich um die Verständlichkeit ihrer Vorträge auch für fachfremde Zuhörer, was bei interdisziplinär angelegten Konferenzen nicht unbedingt der Normalfall sein muss. Auch die rege Beteiligung an den zum Teil sehr kontrovers geführten Diskussionen machte deutlich, dass die einzelnen Beiträge nicht getrennt voneinander standen, sondern immer aufeinander bezogen wurden, so dass es möglich war, weitergehende allgemeine Erkenntnisse zu abstrahieren.

Ein Sammelband, der in der Reihe der „Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V.“ erscheinen wird, soll neben einigen weiteren systematischen Beiträgen (zum Beispiel zum Islam) auch die folgenden für die Tagung geplanten Vorträge in verschriftlichter Form enthalten, die leider ausfallen mussten:

Hubertus Lutterbach (Essen): Das Mittelalter – ein „pollutio ridden system“? Sexualitäts-, Liturgie- und Ernährungsvorschriften auf dem Prüfstand.
Mariano Delgado (Fribourg i.Ue.): „Reinheit des Blutes“. Die spanischen Statuten der „Limpieza de sangre“ in der frühen Neuzeit.
Cornelia Brink (Freiburg i.Br.): „Unreine“ Gefühle, „unreine“ Gedanken. Interferenzen zwischen Biologie und Gesellschaft in der Psychiatrie um 1900.

Konferenzübersicht:

Christoph Marx (Duisburg-Essen) / Peter Burschel (Rostock): Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Körper und Reinheit

Walther Sallaberger (München): Körperliche Reinheit und soziale Grenzen in Mesopotamien.

Waltraud Pulz (München): Vergeistigung des Fleisches – Materialisierung von Spirituellem. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert.

Andreas Bähr (Berlin): Konfession, Unreinheit und Krankheit in der frühen Neuzeit.

Michael Hagemeister (Basel): Reinheit und Vollkommenheit. Russisch-sowjetische Projekte zur Vergöttlichung des Menschen.

Angelika Messner (Kiel): Der Metabolische Leib. Reinheit und Unreinheit in chinesischen Perspektiven.

Öffentlicher Abendvortrag
Arnold Angenendt (Münster): Pollutio im Christentum.

Sektion 2: Sozialer Status

Dorothee Elm (Freiburg i.Br.): Reinheit und Unreinheit, Freiheit und Sklaverei in den Metamorphosen des Apuleius. Zum Zusammenhang von Status und Konzepten der Reinheit in der römischen Kaiserzeit.

Johannes Harnischfeger (Frankfurt a.M.): Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria.

Klaus Vollmer (München): Reinheit und gesellschaftliche Ordnung in Japan. Dimensionen des sogenannten ‚buraku’-Problems in historischer und zeitgenössischer Perspektive.

Astrid Windus (Hamburg): Die visuelle Konstruktion genealogischer Reinheit in inkaischen Herrscherdarstellungen des 16.-18. Jahrhunderts.

Sektion 3: Reinheit und Gender

Anne Conrad (Saarbrücken): Heiligkeit und Gender. Geschlechtsspezifische Reinheitsvorstellungen im Christentum.

Beatrix Hauser (Berlin/Halle): Das Regelspiel indischer Frauen. Menstruelle Unreinheit als inszenatorische Praxis.

Sektion 4: Kollektive Reinheit

Paul Münch (Bisingen): Das Ideal der Rassenreinheit. Zu Inhalt und Wirkungen eines biologischen Axioms.

Thomas Staubli (Fribourg i.Ue.): „Antikanaanismus“. Ein biblisches Reinheitskonzept mit globalen Folgen.

Stefan Plaggenborg (Bochum): „Rein“ und „unrein“ im bolschewistischen Experiment 1917-1941.

Schlussdiskussion

Anmerkung:
1 Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, New York 1966.

Kontakt

Florian Kühnel
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
E-Mail: <florian.kuehnel@uni-muenster.de>